Im Jahr 1951 besuchte der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz Indien zum erstenmal. Damals trat er seinen Dienst an der neueröffneten mexikanischen Botschaft in Neu-Delhi antreten. Als "junger wilder Dichter", war ihm dieses "Übermaß" an Wirklichkeit der Gassen und Märkte Bombays gerade genug. Seinen zweiten Aufenthalt beendete er nach sechs Jahren 1968 aus Protest gegen die Massaker, die die mexikanische Regierung unter den Studenten in Mexiko-Stadt anrichtete.
Das fast drei Jahrzehnte später geschriebene essayistische Buch "Im Lichte Indiens" bezeichnet Paz als "lange Fußnote", in dem er ein unvergleichliches Panorama der indischen Kultur entfaltet. Die komplizierte Vielfalt der in Indien existierenden Religionen, der Kasten und Sprachen Indiens, idie Gegenwart aus Kolonialgeschichte und politische Befreiungsbewegung bis hin zu einer Diskussion über das Erstarken rechtsgerichteter politischer Kräfte im letzten Jahrzehnt und - der Herzstück - philosophische Reflexionen werden abgehandelt.
"Paz weiß die Freiheit des Essayisten zu nutzen. Er differenziert, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Seine Gedankenführung bleibt stets klar und souverän. Paz ist ein Meister in der Kunst legitimer Verallgemeinerung und überraschender Assoziationen, die das Typische aufblitzen lassen." (FAZ)
It‘s complicated. Mein Verhältnis zu Indien, diesem großen, bunten, unübersichtlichen Land. 2012 habe ich ein Kulturprojekt zwischen Delhi und Mumbai betreut und einige Zeit dort verbracht. Kein Land hat mich mehr berührt und fasziniert, und gleichermaßen vollkommen überfordert. Das Stimmengewirr von 14 offiziellen Sprachen, die vibrierende Luft, das Chaos, die tiefe Spiritualität, die Aggressionen, das Laute und das Leise immerzu gleichzeitig und ohne Pausen. Und immer und immer wieder die große Ungerechtigkeit, die Kastenunterschiede, der Glanz und die bittere Armut. Wie geht das? Wie kann so eine Gesellschaft funktionieren? Was ist das unsichtbare Einende, die Kraft? Wie kann ich ein Land lieben und hassen zugleich? Ich habe nichts verstanden.
Der mexikanische Künstler Hector Zamora, der auch in das Projekt involviert war, hat mir „In the light of India“ ans Herz gelegt. „Vielleicht kann es Dir helfen, aus einer mexikanischen Perspektive auf Indien zu blicken.“ sagte er.
Und tatsächlich, der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz hat in den 1950er Jahren und später noch einmal sechs Jahre bis 1968 als Botschafter seines Landes in Indien verbracht. Viele Jahre später erst hat er seine Essay-Sammlung „In the light of India“ herausgegeben.
Ich habe sie noch einmal viele Jahre später gelesen, aber dem Moment seiner Ankunft in Mumbai, den Paz gleich zu Beginn beschreibt, hat die Zeit nichts anhaben können. Er versetzt mich zurück in das Land, über fünfzig Jahre später, habe ich meine eigene Ankunft in Mumbai ganz genauso erlebt:
“India did not enter me through my mind but through my senses. I have spoken of my arrival in Bombay, one morning forty years ago: I can still breathe that humid air, see and hear the crowds in the streets, remember the brillant colours of the saris, the murmur of voices, my dazzlement before the Trimurti in Elephanta.”
Selbst in zwei Kulturen aufgewachsen, kenne ich die Methode, die Paz anwendet, um eine fremde Kultur verstehen zu lernen sehr gut. Die Vergleiche, der Versuch, permanent Parallelen und Unterschiede im Anderen ausgehend vom Eigenen zu erkennen, ist mir sehr vertraut.
Paz relativiert und verstärkt durch seine „mexikanische“ Perspektive das Beobachtete: Das Kastensystem, das koloniale Erbe, die politische Fragilität, die religiösen Konflikte - er verurteilt nicht, er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er unternimmt lediglich den Versuch, das komplizierte Webmuster der indischen Gesellschaft zu entziffern, indem er sich mitten hinein begibt, die Kultur und Spiritualität aufsaugt, und sich seiner Faszination für sie hingibt.
„Moreover it is beyond my knowledge as well as my intentions. These are glimpses of India: signs seen indistinctly, realities perceived between light and shadow. This book is not for the experts. It is the child not of knowledge but of love.“
Octavio Paz hat mir geholfen, meinen westlich-denkenden Kopf auszuschalten und den überquellenden Reichtum Indiens mit meinen Sinnen zu erleben. Denn Schatten und Licht gehören zusammen.
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