Esra Aydin

Esra Aydin

Sozialwissenschaftlerin

Esra Aydin studierte Sozialwissenschaften, weil sie schon immer fasziniert davon war und ist, herauszufinden wie Gesellschaften funktionieren. Sie arbeitet für einen Großkonzern und leitet internationale Kooperationen an der Schnittstelle Gesellschaft, Kunst, Design und Architektur. Zuletzt initiierte sie eine Research Collaboration mit Rem Koolhaas zum Thema Post-Urban.

Im Lichte Indiens

Octavio Paz
Octavio Paz' lebenslange Beschäftigung mit der wesentlich anderen Spiritualität und Sensualität der indischen Kultur hat hier die Form eines großen Essays gefunden.

It‘s complicated. Mein Verhältnis zu Indien, diesem großen, bunten, unübersichtlichen Land. 2012 habe ich ein Kulturprojekt zwischen Delhi und Mumbai betreut und einige Zeit dort verbracht. Kein Land hat mich mehr berührt und fasziniert, und gleichermaßen vollkommen überfordert. Das Stimmengewirr von 14 offiziellen Sprachen, die vibrierende Luft, das Chaos, die tiefe Spiritualität, die Aggressionen, das Laute und das Leise immerzu gleichzeitig und ohne Pausen. Und immer und immer wieder die große Ungerechtigkeit, die Kastenunterschiede, der Glanz und die bittere Armut. Wie geht das? Wie kann so eine Gesellschaft funktionieren? Was ist das unsichtbare Einende, die Kraft? Wie kann ich ein Land lieben und hassen zugleich? Ich habe nichts verstanden.

Der mexikanische Künstler Hector Zamora, der auch in das Projekt involviert war, hat mir „In the light of India“ ans Herz gelegt. „Vielleicht kann es Dir helfen, aus einer mexikanischen Perspektive auf Indien zu blicken.“ sagte er.

Und tatsächlich, der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz hat in den 1950er Jahren und später noch einmal sechs Jahre bis 1968 als Botschafter seines Landes in Indien verbracht. Viele Jahre später erst hat er seine Essay-Sammlung „In the light of India“ herausgegeben.

Ich habe sie noch einmal viele Jahre später gelesen, aber dem Moment seiner Ankunft in Mumbai, den Paz gleich zu Beginn beschreibt, hat die Zeit nichts anhaben können. Er versetzt mich zurück in das Land, über fünfzig Jahre später, habe ich meine eigene Ankunft in Mumbai ganz genauso erlebt:

“India did not enter me through my mind but through my senses. I have spoken of my arrival in Bombay, one morning forty years ago: I can still breathe that humid air, see and hear the crowds in the streets, remember the brillant colours of the saris, the murmur of voices, my dazzlement before the Trimurti in Elephanta.”

Selbst in zwei Kulturen aufgewachsen, kenne ich die Methode, die Paz anwendet, um eine fremde Kultur verstehen zu lernen sehr gut. Die Vergleiche, der Versuch, permanent Parallelen und Unterschiede im Anderen ausgehend vom Eigenen zu erkennen, ist mir sehr vertraut.

Paz relativiert und verstärkt durch seine „mexikanische“ Perspektive das Beobachtete: Das Kastensystem, das koloniale Erbe, die politische Fragilität, die religiösen Konflikte - er verurteilt nicht, er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er unternimmt lediglich den Versuch, das komplizierte Webmuster der indischen Gesellschaft zu entziffern, indem er sich mitten hinein begibt, die Kultur und Spiritualität aufsaugt, und sich seiner Faszination für sie hingibt.

„Moreover it is beyond my knowledge as well as my intentions. These are glimpses of India: signs seen indistinctly, realities perceived between light and shadow. This book is not for the experts. It is the child not of knowledge but of love.“

Octavio Paz hat mir geholfen, meinen westlich-denkenden Kopf auszuschalten und den überquellenden Reichtum Indiens mit meinen Sinnen zu erleben. Denn Schatten und Licht gehören zusammen.

Esra Aydin

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