Der Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto Savinio (1891 bis 1952) beschreibt Mailand in seinem Werk "Ascolto il tuo cuore città" aus dem Jahre 1944 mit all seinen Sinnen und einem wachen, unbefangenen, respektlosen Verstand.
Das Buch ist voll von Mythen und Anekdoten, Kalauern und Bildern: Savinios will die Welt "in einem Augenblick" sehen, "in dem die Dinge ihre starre Pose ablegen, sich hingeben, ruhiger atmen". Sein Buch entfaltet eine Kultur-Utopie, erzählt in schnell wechselnden und sehr gegensätzlichen Bilder. Die Stadt liefert dazu die Stichworte.
Wäre ich vor einigen Jahren nicht mitten in Mailand an einer kaputten Parkuhr verzweifelt, hätte ich Alberto Savinio vielleicht nie für mich entdeckt. Besagte Parkuhr fraß immer mehr meines Geldes, spuckte aber keinen Parkschein aus. Ratlos, wütend und müde lehnte ich mich schließlich an einer Hauswand an und sah mich um. An einer schräg gegenüberliegenden Fassade waren sehr weit oben, schon beinahe unter dem Dach, die Worte „Ascolto il tuo cuore città“ in den Putz graviert. Sie berührten mich, weil mir in meiner kurzfristigen Kapitulation erstens auch gerade nichts anderes übrig blieb, als mich umzusehen und dem Herzen der Stadt zu lauschen. Und weil sie mich zweitens an meine große Leidenschaft für das Flanieren und anthropologische Stadterkundungen erinnerten. Als ich meinem Freund davon erzählte, sagte er, es gebe einen gleichnamigen Mailand-Bildband des Fotografen Gabriele Basilico. Ich suchte danach und fand heraus, dass Basilico sich diesen Titel lediglich von Alberto Savinios großer literarischer Mailand-Hommage geborgt hatte.
Ich bestellte es auf Italienisch und Deutsch, um beides parallel zu lesen, denn schon der Klang des deutschen Titels „Stadt, ich lausche deinem Herzen“ ließ mich im Gegensatz zu „Ascolto il tuo cuore città“ relativ kalt.
Los geht das Buch allerdings gar nicht in Mailand, sondern in Venedig und liefert also auch von dieser Stadt ganz beiläufig eine Charakterstudie ab, die treffender ist als vieles, was ich anderswo jemals darüber gelesen habe. Savinio wandert so durch die Stadt und fährt schließlich mit dem Zug nach Mailand, der Stadt, dem seine „ganze fleischliche Liebe“ gilt. Aber er berichtet nie nur, was er sieht und fühlt. Das ganze Buch ist ein sprunghaftes Sammelsurium an anthropologischen Betrachtungen und Anekdoten, an historischem Wissen und persönlichen Begegnungen, Kalauern und Skurrilitäten und sie decken keineswegs nur die Topographie der Stadt ab, sondern gleich das gesamte menschliche Wesen und seine Rätselhaftigkeit. Auf jeder Seite gibt es aus den unterschiedlichsten Gründen ganze Absätze zu unterstreichen. Einige davon lediglich aufgrund ihrer Schönheit:
„Die meisten kennen nur die offenen und begehbaren Teile der Galerie Vittorio Emmanuele, die wenigsten kennen ihr Inneres, ihre geheimen Organe, ihre Mysterien. (…) Ich gehe über Galerien mit eiserner Brüstung. Ich gehe durch Schwingtüren, die hinter mir noch lange hin und her schlagen wie Flügel sterbender Vögel. Ich laufe über Korridore mit Glaswänden, über Korridore, deren Boden aus Glas ist, durch den rotes Licht dringt, als würde man die Hölle mit einem Steg überbrücken. (…)“
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