Mercedes Lauenstein

Mercedes Lauenstein

Schriftstellerin & Journalistin

Mercedes Lauenstein wurde 1988 in der Nähe von Flensburg geboren. Heute lebt sie als Schriftstellerin und freie Journalistin in München und Norditalien. Ihr literarisches Debüt „Nachts“ erschien 2015 im Aufbau-Verlag und wurde 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet, 2018 folgte der Coming-of-Age Roman „Blanca“.

Gemeinsam mit dem Fotografen Juri Gottschall hat sie das Splendido Magazin gegründet, einst kulinarisches Tagebuch der beiden, mittlerweile Instanz für einen modernen Zugang zur italienischen Küche, gute Interviews und Sammelsurium der besten Einkaufsadressen Italiens und dem Weg dorthin.

Stadt, ich lausche deinem Herzen

Alberto Savinio
Alberto Savinio hat "Ascolto il tuo cuore città" als Porträt Mailands bezeichnet, der Stadt, der seine "ganze fleischliche Liebe" gilt. Er inszeniert sie, setzt sie in Szene und läßt Wolkenkratzer, Straßen oder Standbilder als Akteure auftreten.

Wäre ich vor einigen Jahren nicht mitten in Mailand an einer kaputten Parkuhr verzweifelt, hätte ich Alberto Savinio vielleicht nie für mich entdeckt. Besagte Parkuhr fraß immer mehr meines Geldes, spuckte aber keinen Parkschein aus. Ratlos, wütend und müde lehnte ich mich schließlich an einer Hauswand an und sah mich um. An einer schräg gegenüberliegenden Fassade waren sehr weit oben, schon beinahe unter dem Dach, die Worte „Ascolto il tuo cuore città“ in den Putz graviert. Sie berührten mich, weil mir in meiner kurzfristigen Kapitulation erstens auch gerade nichts anderes übrig blieb, als mich umzusehen und dem Herzen der Stadt zu lauschen. Und weil sie mich zweitens an meine große Leidenschaft für das Flanieren und anthropologische Stadterkundungen erinnerten. Als ich meinem Freund davon erzählte, sagte er, es gebe einen gleichnamigen Mailand-Bildband des Fotografen Gabriele Basilico. Ich suchte danach und fand heraus, dass Basilico sich diesen Titel lediglich von Alberto Savinios großer literarischer Mailand-Hommage geborgt hatte. 

Ich bestellte es auf Italienisch und Deutsch, um beides parallel zu lesen, denn schon der Klang des deutschen Titels „Stadt, ich lausche deinem Herzen“ ließ mich im Gegensatz zu „Ascolto il tuo cuore città“ relativ kalt.

Los geht das Buch allerdings gar nicht in Mailand, sondern in Venedig und liefert also auch von dieser Stadt ganz beiläufig eine Charakterstudie ab, die treffender ist als vieles, was ich anderswo jemals darüber gelesen habe. Savinio wandert so durch die Stadt und fährt schließlich mit dem Zug nach Mailand, der Stadt, dem seine „ganze fleischliche Liebe“ gilt. Aber er berichtet nie nur, was er sieht und fühlt. Das ganze Buch ist ein sprunghaftes Sammelsurium an anthropologischen Betrachtungen und Anekdoten, an historischem Wissen und persönlichen Begegnungen, Kalauern und Skurrilitäten und sie decken keineswegs nur die Topographie der Stadt ab, sondern gleich das gesamte menschliche Wesen und seine Rätselhaftigkeit. Auf jeder Seite gibt es aus den unterschiedlichsten Gründen ganze Absätze zu unterstreichen. Einige davon lediglich aufgrund ihrer Schönheit: 

„Die meisten kennen nur die offenen und begehbaren Teile der Galerie Vittorio Emmanuele, die wenigsten kennen ihr Inneres, ihre geheimen Organe, ihre Mysterien. (…) Ich gehe über Galerien mit eiserner Brüstung. Ich gehe durch Schwingtüren, die hinter mir noch lange hin und her schlagen wie Flügel sterbender Vögel. Ich laufe über Korridore mit Glaswänden, über Korridore, deren Boden aus Glas ist, durch den rotes Licht dringt, als würde man die Hölle mit einem Steg überbrücken. (…)“

Mercedes Lauenstein

Auf der Plaça del Diamant

Mercè Rodoreda
Mercè Rodoreda schildert in "La Plaça del Diamant" in ungewöhnlicher Eindringlichkeit die Lebensgeschichte einer in Traditionen verhafteten jungen Frau, die im Spanischen Bürgerkrieg ihren Mann verliert und gezwungen ist, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Mit dem Vornamen Mercedes in einem norddeutschen Dorf aufzuwachsen, kann durchaus ein mittelschweres Trauma verursachen. Seit ich denken kann, freue ich mich deshalb über jede Person, die auch Mercedes heißt und jeden, der weiß, dass es ja, haha, wow, crazy, ein echter Name und nicht nur die Bezeichnung für ein Auto aus Stuttgart ist. Auch wenn ich heute fast ausschließlich Komplimente für meinen Namen bekomme und längst meinen Frieden damit geschlossen habe, lässt mich die Fixierung auf andere Frauen namens Mercedes nicht los.

Natürlich musste ich deshalb sofort alles von der katalanischen Schriftstellerin Mercedes Rodoreda, genannt Mercè Rodoreda lesen, als ich sie entdeckte. Roger Willemsen war ein großer Fan ihres „Der Garten über dem Meer“, aber ich halte es mit Gabriel Garcia Marquez und bin fast noch begeisterter von „Auf der Placa del Diamant“. Das eigentlich Bezaubernde dabei ist gar nicht die Story, sondern immer Rodoredas Sprache, die heftig ist und atemlos, schwelgerisch, nah, dicht und verzweifelt, fast tränenglänzend wie ein heiß geweintes Gesicht.

Mercedes Lauenstein

Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler

Georges Perec
"L'infra-ordinaire" ist eine Sammlung an kleinen, posthum veröffentlichten Texten des französischen Autors Georges Perec.

Nach und nach erschließe ich mir das Werk von George Perec und am besten gefallen mir immer seine literarischen Schnipsel, Kurzessays und Alltagsminiaturen. Ich liebe es, wie er das absolut Banale zum absolut Heiligen erhebt und fast schon medizinisch genau untersucht. Er ist gleichzeitig todernst und spielerisch in seiner Betrachtung, wie ein Kind, dem es wirklich ernst mit dem ist, was es tut, auch wenn alle um ihn herum sagen: Herrjemine, was für ein alberner Unsinn! Und er wundert sich über wirklich alles, was ihn umgibt. Von der Bordsteinkante bis zur Hausnummer, über das Aufräumen und Postkartenbeschriftungen bis hin zum Wesen der Brille. Alles, was er betrachtet, betrachtet er wie zum ersten Mal. Da ich das selbst sehr gut kenne und kein Morgen vergeht, an dem ich nicht aufwache und mich als erstes frage, wer ich bin, was ich hier soll und was das da draußen für ein merkwürdiges Ding namens „Welt“ ist, fühle ich mich von Perec bestens verstanden. 

Eigentlich spielen alle seine Bücher in Paris und ich kann auch nur schwer sagen, welches mein Liebstes ist. Ich denke, wenn ich mich festlegen müsste, würde die Rangliste etwa so aussehen: 1. Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler 2. Denken / Ordnen 3. Träume von Räumen 4. Ein Mann, der schläft und 5. Das Leben. Gebrauchsanweisung. Weiter bin ich noch nicht. 
 

Mercedes Lauenstein

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