Über das Buch

Als W. G. Sebald im Herbst 1997 seine Thesen zu Luftkrieg und Literatur an der Züricher Universität vortrug, war das Echo unerhört. Sebald sprach über "die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis". Wichtiger als die Schilderung der realen Verhältnisse sei ihnen die Wiederherstellung ihres eigenen Selbstverständnisses gewesen. W. G. Sebalds provozierender Angriff erscheint hier zum ersten Mal als Taschenbuch, ergänzt durch einen Essay, mit dem der Autor auf die erregten Diskussionen antwortet. Eine provozierende These: Die deutsche Literatur hat vor dem Grauen des Luftkriegs versagt. Mit analytischer Schärfe und großem Materialreichtum markiert Sebald eine Wunde in der Nachkriegsliteratur, die bis heute nicht verheilt ist. Seine herausfordernde Untersuchung wird ergänzt durch einen Essay, mit dem Sebald auf die erregten Diskussionen antwortet.

ISBN: 978-3-596-14863-9

Luftkrieg und Literatur erscheint 1999. Im selben Jahr, genau am 24. März 1999, ging in Deutschland die Nachkriegszeit zu Ende. In der Operation Allied Force beteiligte sich die deutsche Luftwaffe erstmals nach Ende des Zweiten Weltkrieges an einem bewaffneten Kampfeinsatz. „Der Aufsteiger“, so betitelt der Historiker Edgar Wolfrum seine 2020 erschienene Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute, verschob sein oberstes politisches Gebot der Gewalt: aus „Nie wieder Krieg“ wurde „Nie wieder Auschwitz“. Luftkrieg und Literatur „war ausgegangen von Carl Seeligs Schilderung eines Ausflugs, den er im Hochsommer 1943 mit dem Anstaltspatienten Robert Walser gemacht hatte genau an dem Tag, auf den dann die Nacht folgte, in der die Stadt Hamburg im Feuer zugrunde ging.“ Seebald analysiert die Leerstelle die der Luftkrieg über Deutschland in der deutschsprachigen Literatur hinterließ und diagnostiziert ein „Versagen vor der Gewalt der aus unseren ordungswütigen Köpfen entstandenen absoluten Kontingenz.“ Das „verheerende Grauen“ des Luftkrieges über Deutschland scheine „kaum eine Schmerzensspur“ hinterlassen zu haben. Vielmehr wurde versucht daraus „ein Ruhmesblatt im Register dessen zu machen, was man erfolgreich und ohne ein Anzeichen innerer Schwäche alles überstanden hat.“ W.G Seebald wählt hier das seltene Wort Ruhmesblatt. Es erinnert an ein ganz anderes, „niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt“ aus dem Kriegsjahr 1943. Das „gnadenlose“ Ausmass der durch die „Fachleute des Schreckens“ ausgelösten Ereignisse erschliesst sich, wenn überhaupt, bloss „unter einem synoptischen, künstlichen Blick.“ Die Dokumentation bedarf der Fiktion. Von Seite 35 bis Seite 80 unternimmt Seebald den Versuch, den Einsatz einer „Naturgeschichte der Zerstörung“ zu finden. Dabei nimmt er immer wieder die in der Nacht vom 28. Juli begonnene und >Operation Gomorrha< betitelte „vollständige Vernichtung und Einäscherung der Stadt“ Hamburg in den künstlichen Blick. Seebald grenzt seinen Blick zum Schluss scharf von Alexander Kluges Blick ab, der „aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der entsetzensstarre des Engels der Geschichte“ sei. Der Seebaldsche Blick, der der das noch nicht niedergeschriebene Lesenden, gleicht dem in der Ludovico Technique festgeklammerten Blick von Alex in Clockwork Orange. No more Singing in the Rain. The Fire Next Time.

Michael Stöppler

Michael Stöppler

Soziologe

Hamburg

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