Holger Liebs ist ein deutscher Kunsthistoriker, Autor und Journalist. Von 2001 bis 2010 war er Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung. Von 2010 bis 2016 war er Chefredakteur der Zeitschrift Monopol. Von 2016 bis 2017 war er Programmdirektor, von 2017 bis 2018 Verlagsleiter und von 2018 bis 2019 Editor-at-Large beim Kunstverlag Hatje Cantz. Er berät den italienischen Kunstbuchverlag Skira Editore.
Empfohlen vom Kölner Museumsmann Kasper König vor meinem Umzug von Köln nach München im Jahr 2001, ist dieser sogenannte Zeitroman zwar bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben, aber tatsächlich ja für Leser des damals noch fernen Jahres 2000 verfasst, die mit großem Erstaunen über den seltsamen süddeutschen Menschenschlag der „Bewohner der bayerischen Hochebene“ erfahren sollten. „Der Erfolg“ hat mir geholfen, die Stadt München wie ein Naturkundler kennenzulernen: als eine fremde, faszinierende, exotische, leider manchmal auch ziemlich bedrückende Welt. Ein politisch unliebsamer, weil linker Museumsdirektor wird aus fadenscheinigen Gründen in eine Zelle gesperrt, man will ihn weghaben, und während er im Gefängnis schmort, gewinnen die Rechten an Boden und tauchen allerlei Zeitgestalten auf wie Bertolt Brecht, Karl Valentin oder Hitler, wenngleich nicht unter ihren wirklichen Namen. Es entsteht das Epochenbild einer Stadt, so packend geschrieben, dass der Roman mich nicht mal auf der Münchner U-Bahn-Rolltreppe losließ, ich habe ihn verschlungen, und man muss ihn schon deshalb lieben, weil in ihm Menschen schon auch mal als „Fleischpuppen“ bezeichnet werden, und wegen Sätzen wie diesem, über das Haustier des Ministers Flaucher im Zigarrendunst einer Weinstube: „Müde, die Betrübnis seines Herrn ängstlich spürend, wischte Waldmann der Dackel in seinem Winkel“.
Ein Felsmassiv von einem Buch, unendlich tief, weil es am Ende ausufert zu unzähligen alternativen Entwürfen, die nie zu einem bündigen Schluss gelangen: ein Roman, der niemals aufhört und in den man sich tief eingraben kann, ohne jemals zum Kern vorzustoßen. Getragen vom Grundgedanken, dass nichts gewiss ist, dass alles immer auch hätte anders kommen können, dass Epochen enden und Reiche zerbrechen können und dass man diese Kontingenz aushalten muss, aber ohne ihr zu verfallen. Auch in Wien, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in der Monarchie, die Musil „Kakanien“ nennt, als sich Hauptfigur Ulrich in eine Zeit hineingeworfen sieht, die ihm zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint: „Was ist also abhanden gekommen? Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne loslässt und sie wieder durcheinander geraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt.“ Dieser Roman hat mir mehr gegeben als mein ganzes Philosophiestudium. Und ist, wie alle überragenden Romane, wieder hochaktuell.
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